Aktuelle Lehrveranstaltungen im Sommersemester 2023
Hauptseminar: Wilhelm Raabes Hastenbeck
Es ist Krieg in Niedersachsen anno 1757. Trotzdem ist Pastor Gottlieb Holtnicker der unumstößlichen Überzeugung, dass die göttliche Vorsehung die Welt regiert und ihm deshalb seinerzeit das Bienchen, die mittlerweile als junge Frau allen Männern den Kopf verdreht, als kleines Kind in die Obhut gegeben hat. Doppelt dumm ist nur, dass die Frau Pastorin eigene Pläne mit ihrer Pflegetochter hat, während Bienchen den Porzellanmaler Pold Wille liebt, der allerdings als Deserteur steckbrieflich gesucht wird und damit sowohl faktisch das eigene Leben verwirkt hat als auch alle ihm Unterschlupf gewährenden Haushalte mit Brandschatzung und Plünderung bedroht. In dieser gefährlichen Situation erweist es sich – Vorsehung hin oder her – als notwendig, den Porzellanmaler bzw. das junge Paar hinter die Linien der Kriegsparteien zum herzoglichen Schloss Blankenburg zu bringen, um dort ein Gnadengesuch stellen zu können. Wenn jemand diese Aufgabe übernehmen kann, dann ist das die alte, mit vorzüglichen Ortskenntnissen und weitverzweigten Kontakten ausgestattete Wackerhahnsche, die die Hässlichkeit der Welt in allen Schattierungen bis hin zu persönlichen Demütigungen während ihrer langen weltläufigen Tätigkeit als Marketenderin mehr als ausgekostet hat. Der Roman geht gut aus: Bienchen wird Madame Wille und lebt mit ihrem wieder als Porzellanmaler privilegiert-herzoglich arbeitenden Pold und ihren Kindern ein glückliches Familienleben. Raabe hat aber nicht nur die Idylle auf den Krieg, sondern auch eine Fülle an Quellenmaterial unterschiedlichster Provenienz auf die Handlung gepfropft, wodurch die Lektüre dieses von der Raabe-Forschung weniger beachteten Textes zu einer anspruchsvollen, aber auch sehr vergnüglichen Sache wird.
Proseminar: Alters-Alltagsgedichte: Fontane und Benn
Wenn schwere Verständlichkeit und Abgehobenheit zu den Markenzeichen der Lyrik zählen, dann unterläuft eine nicht unbeträchtliche Anzahl an Gedichten Theodor Fontanes und Gottfried Benns diese gängigen, grundsätzlich nicht falschen Annahmen. Und es ist wohl kein Zufall, dass jene Gedichte dem jeweiligen Alterswerk der beiden Dichter zuzuordnen sind: Wer als Autor arriviert bzw. etabliert ist, kann sich leichter gewissen Lockerungsübungen überlassen als literarische Debütantinnen und Debütanten, die alle (vermeintlichen) Anzeichen einer (nach)lässigen künstlerischen Praxis tunlichst vermeiden sollten. Von Fontanes Sensibilität als genauer Beobachter der Berliner Gesellschaft profitierten nicht nur dessen bis heute viel gelesene Romane, sondern auch eine auf den ersten Blick unprätentiöse Lyrik, die sich auf scheinbar beiläufige Weise mit dem Alltäglichen und Nebensächlichen beschäftigt und dabei zur hellsichtig-distanzierten Betrachtung der Gesellschaft, ihrer Moden, Sprachspiele und Rangunterschiede vorstößt. In Benns Spätwerk zeigt sich die Realitätsorientierung schon in der häufigen Abwendung von Metrum und Reim zugunsten einer prosanahen, Slang-Ausdrücke, Sportjargon und andere Sprachpartikel montierenden Diktion und der Hinwendung zur urbanen Lebenswelt der Nachkriegsjahre mit ihren Kneipen und ihrer über die Massenmedien distribuierten Populärkultur. Im Seminar werden ausgewählte Gedichte der beiden Autoren (vergleichend) gelesen und inhaltlich sowie formal erschlossen.
Proseminar: Dramen des Naturalismus (2 Kurse)
Es ist heute kaum noch vorstellbar, dass Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889) bei seiner Berliner Uraufführung einen handfesten Skandal verursachte. Verständlich wird dies allerdings aus literatur- und mentalitätsgeschichtlicher Perspektive: Das damalige Premierenpublikum – und das spricht zumindest für sein klares Bewusstsein – schien begriffen zu haben, dass mit diesem Stück eine neue Epoche des Bühnennaturalismus angebrochen war, der die ästhetischen und weltanschaulichen Überzeugungen und das auf sittliche Autonomie fixierte Menschenbild des konservativen Bildungsbürgertums brüskierte. Dieses innovative Potenzial zeichnet auch das nur wenig später abgeschlossene Drama Familie Selicke (1890) von Arno Holz und Johannes Schlaf aus, das zunächst sogar gemeinsam mit Gerhart Hauptmann hätte ausgearbeitet werden sollen. Im Seminar sollen wesentliche Neuerungen der naturalistischen Dramaturgie wie die szenische Vergegenwärtigung sozialer, psychischer und ökonomischer Determinanten, der Einsatz von Alltagssprache bis hin zum Dialekt und zu nonverbalen Artikulationsmarotten, die desillusionierend-analytische Funktion tendenziell statischer, handlungsarmer Milieustudien und der extensive Gebrauch von Regieanweisungen diskutiert und dabei Ähnlichkeiten und Unterschiede der beiden Dramen herausgearbeitet werden.
Proseminar: Postmoderne Epik: Hans Magnus Enzensbergers Der Untergang der Titanic
Totgesagte leben länger. Schon 1779 hatte Johann Carl Wezel in der Vorrede zu seinem Roman Herrmann und Ulrike den Roman als „wahre bürgerliche Epopee“ bezeichnet, und Hegel war ihm mit dieser Einschätzung in seinen in den 1820er Jahren an der Berliner Universität gehaltenen Vorlesungen über die Ästhetik gefolgt. Trotz dieser Diagnosen, die das Epos zu einer überholten, durch den Roman ersetzten Gattung degradierten, überlebte die Verserzählung in vielfältiger Form bis heute, wie Durs Grünbeins Vom Schnee oder Descartes in Deutschland (2003), Ann Cottens Verbannt (2016) oder Anne Webers Annette, ein Heldinnenepos (2020) bezeugen. Ein wichtiger, vielleicht sogar der wichtigste Erneuerungsversuch des Epos in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war 1978 von Hans Magnus Enzensberger vorgelegt worden: Der Untergang der Titanic überblendet eine Vielzahl von Handlungssträngen und thematischen Schwerpunkten mittels eines polyphonen, aus 33 Gesängen und 16 Zwischentexten bestehenden Textmosaiks, in dem unterschiedlichste literarische Techniken und Schreibweisen zum Einsatz kommen. Im Seminar sollen die wichtigsten, sich um die Katastrophe der Titanic und das Scheitern des kubanischen Marxismus gruppierenden, von der Kunst der Renaissance bis zur bundesrepublikanischen Wirklichkeit der 1970er Jahre reichenden Themen erschlossen und die formale Vielfalt der Texturen in den Blick genommen werden.
Kandidatenkolloquium
Vorgestellt und diskutiert werden im Entstehen begriffene schriftliche Abschlussarbeiten
und allgemeine methodologische Probleme der Literaturwissenschaft. Sofern es die
Zeitverhältnisse zulassen, analysieren wir aktuelle Medieninterventionen zu
politischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Themen.
Teilnahme nur auf persönliche Einladung möglich.